Azoren revisited – „Bleibt alles anders“

Blick auf Pico.

Die Durchsage aus dem Cockpit kommt ebenso überraschend wie beiläufig. Aufgrund der aktuellen Wetterlage würden wir nicht wie geplant auf Faial landen, sondern auf die Nachbarinsel Pico ausweichen. Wir befinden uns bereits im Sinkflug, die kurzfristige Kursänderung scheint jedoch kaum jemanden zu scheren. Das Mädchen auf der gegenüberliegenden Gangseite widmet sich in unverminderter Konzentration seinen Hausaufgaben. Der Vater blickt nicht einmal von seinem Tablet auf, und selbst die wenigen Touristen an Board lassen sich nicht aus der Ruhe bringen.

Wie anders war es doch bei meinem ersten Besuch, Sommer 1980, gewesen. Direktflüge gab es noch nicht. Alles ging über das Mutterland Portugal. Dann weiter nach Sao Miguel, dem einzigen Flughafen der neun Azoreninseln zu der Zeit (längst hat jede Insel einen eigenen), und der Legende nach ausschließlich von azoreanischen Piloten angeflogen, da Start- und Landebahn derart kurz bemessen waren, dass statt eines Sicherheitspuffers der Atlantik als Auffangbecken wartete. Die Anspannung bei der Landung war mit (feuchten) Händen zu greifen gewesen. Die Einheimischen bekreuzigten sich unentwegt beim Anflug, um mit Stillstand der Räder auf der Landebahn in einen befreienden Applaus auszubrechen. Umgekehrt wurden beim Start mit angehaltenem Atem die Sekunden gezählt, bis der Flieger endlich, endlich vom Boden abhob. Heute ist selbst ein ungeplantes Ausweichen auf die Nachbarinsel business as usual. Vor dem Flughafen von Pico wartete der Bus, der uns zum Fähranleger nach Madalena brachte, von wo aus es per Schiff in einer halbstündigen Überfahrt durch den „Canal“ nach Horta auf Faial ging und weiter vom Fähranleger mit einem der vielen einstiegsbereiten Taxis zu unserer Unterkunft.

Alles in allem eine knapp zweistündige Umleitung. Keine große Sache also. Denn wenn es eines auf den Azoren schon immer im Überfluss gab, dann Zeit. Zumindest hatten ihre Bewohner mir stets diesen Eindruck vermittelt. Wann immer ich jemanden damals um eine Auskunft bat, standen alle Räder still, bis mir – und sei es erst durch einen herbeigeholten Dritten, der jemand Viertes kannte… – weitergeholfen werden konnte. Alles andere konnte warten. Ja, sie schienen mir geradezu Meister im Warten zu sein, als kannten sie keine Ungeduld, weil es nichts zu verpassen gab. Eine frühe Schule der Entschleunigung und Reduktion noch vor den Zeiten von Internet und Social Media. So zumindest hatte ich zu Hause immer geschwärmt. Angesichts des Nachmittagsverkehrs fürchte ich nun, wie ein in seiner eigenen Zeit versunkener Blender dazustehen.

Vulkanlandschaft bei Capelinhos.

Leicht verschämt schaue ich zu meiner Frau rüber, dann zu meinem Sohn, aber sie scheinen daran keinen Gedanken zu verschwenden. Ihr Blick ist vielmehr gefangengenommen von der Kraterlandschaft, die sich vor ihren Augen aus dem leicht aufgerauhten Meer hinter dem Hafenort Horta erhebt. Natürlich, schüttele ich innerlich mit dem Kopf. Was denn sonst. Was habe ich denn erwartet: einen Wagenzug von Muligespannen mit zahnlosen Alten, unterstützt von barfuß laufenden Jungen, wie vor 36 Jahren, als es kaum Autos in privater Hand gab, hinter dem Steuer der vereinzelten Taxen meist ein aus den USA zurückgekehrter Arbeitsmigrant, den es in die beschauliche Heimat zurückgezogen hatte, während ansonsten die Straße den Eseln, manchmal auch den Kühen oder Ziegen, und den wenigen Versorgungsfahrzeugen gehörte. Wohl kaum.

Als wir am Abend durch den Ort schlendern, ertappe ich mich dabei, wie ich immer wieder von den relativ hohen Fußwegen auf die Straße ausweiche, bis das nächste Auto mich in die Gegenwart zurückzwingt. So befremdlich mir das gelegentliche Hupen dann auch in den Ohren klingt, letztlich ist Horta mit seinen 6400 Einwohnern – zumindest jetzt, im Herbst – immer noch ausgesprochen relaxed, ohne jedoch allzu provinziell zu wirken, was nicht zuletzt auf Faials Rolle als traditioneller Treff der Transatlantiküberquerer zurückgeht. Zirka 5000 Segler machen im Yachthafen von Horta alljährlich für ein paar Tage fest, und sei es nur, um im legendären Peter Café Sport einen Gin zu nehmen. Den gab es damals auch schon, heute kann man nebenan gleich noch alle erdenklichen Freizeitaktivitäten zu Land und zu Wasser dazubuchen. Besonders zu empfehlen: Mountainbikes leihen, zum Caldeirarand auf 1000 m hoch (ob nun mit Fahrrad im Taxi oder per Körpereinsatz), um den Krater wandern und im entspannten Rollmodus wieder hinab. Das Ganze, wenn das Wetter mitspielt, mit Blick auf den Gipfel des gegenüberliegenden Pico.

Faial ist der ideale Einstieg für ein erstes Kennenlernen der Inselgruppe. Quasi Azoren light. Klein genug, um sich an einem Tag mit dem Mietwagen oder dem Bus einen umfassenden Eindruck zu verschaffen, und doch versehen mit allem, was die Azoren so einzigartig macht: einer Caldeira im Inselinneren; einer üppigen, in den verschiedensten Grüntönen die Augen verwöhnenden Vegetation; im Westen bei Capelinhos eine noch immer nahezu jungfräuliche Mondlandschaft, Resultat des Ausbruchs von 1957/58 und Zeugnis der plattentektonischen Beschaffenheit dieser vulkanisch aktiven Region (die Azoren liegen längs des mittelatlantischen Rückens); und Menschen von schlagender Freundlichkeit, die einem ungefragt Antwort geben. Menschen wie Gisela vom Naturalist-Team, einem University Start-up (MARE – Marine and Environmental Sciences Centre, University of Lisbon), das sich für nachhaltigen Tourismus stark macht. Sie hatte uns von einer Wanderung mit dem Kleinbus abgeholt. Auf der Fahrt hatten wir ihr von unserem nächsten Ziel (Pico) erzählt. Und am gleichen Abend noch, als wir zufällig im selben Restaurant essen, kommt sie an unseren Tisch, in ihrer Hand eine Serviette, auf die sie ihre persönlichen Pico-Highlights aufgemalt hat.

Spätestens in diesem Moment fühle ich mich von der Zeit eingeholt. Denn mehr noch als die imposanten Naturschauspiele waren es die kleinen Gesten der Mitmenschlichkeit und einer oftmals wortlosen Anteilnahme gewesen, die mich so vorbehaltlos für die Azoren eingenommen hatten. Morgens aufzuwachen, das Zelt zu öffnen und eine Flasche frischer Milch vorzufinden, wie von Geisterhand dort hinterlassen. Das war so eine jener typischen Begebenheiten gewesen, die mich so lange davon abgehalten hatten, zurückzukommen, als hätte ich die ganze Zeit über um den Verlust meines ganz persönlichen Paradieses gefürchtet. Die Begegnung mit Gisela war da so etwas wie die Wiederbelebung des azoreanischen Geistes.

Giselas Karte von Pica.

Am nächsten Tag setzen wir, die handgemalte Karte im Reiseführer, nach Pico über. Mekka des Whale Watching und zugleich mit 2351 m höchster Berg Portugals. Ist Faial die weltläufige unter den Azoreninseln, so ist Pico die bodenständige. Hier scheint man zu wissen, was man an sich hat, und mehr braucht es wohl auch nicht. Als spanne der alles überragende Pico, dieser fast gleichschenklige, wie aus einem Kindermalbuch entlehnte Berg, seine Arme zu einem Schutzschirm über dem Land aus. Es ist, als läge ein samtenes Tuch (oder aber eine Wolkendecke wie bei meiner ersten Begegnung, als ich wetterbedingt auf eine Gipfeltour verzichten musste) über der Insel und dämpfe jeden einzelnen Schritt. Diesmal jedoch sollte – ein Glücksfall, auf den man sich aber selbst bei wochenlangen Aufenthalten nicht verlassen kann – fast drei Tage hintereinander freie Sicht herrschen.

Ausgangspunkt für die ca. siebenstündige Tour ist das Mountain House auf 1200 m Höhe, wo man die notwendige Genehmigung für den Aufstieg samt eines GPS-gestützten Notrufsenders erhält. Der Weg selbst ist zwar nicht weiter gefährlich, fordert aber durchaus Trittsicherheit, gerade beim Abstieg, da der Untergrund teilweise sehr uneben und von vulkanischen Steinformationen aufgeworfen ist. Die Aussicht an einem klaren Tag ist jedoch alle Mühen (und ggf. auch den nachfolgenden Muskelkater) wert.

Wer es nicht so mit der Höhe hat, dem bleibt der schweifende Blick übers Meer. An der Südküste bei Lajes de Pico gilt dieser seit je dem Aufsuchen der Wale. Das ist auch heute noch so, nur dass es nicht länger darum geht, die Riesensäuger mit der Harpune zu erlegen, sondern sie mit der Kamera einzufangen. 1980 stapelten sich hier noch die riesigen Gerippe der erlegten Tiere. Drei Jahre später sollte der Walfang, der bis zum Schluss per Hand ausgeführt wurde und entsprechend nur geringe Fangquoten aufwies, eingestellt werden. Zu unrentabel. Einträglicher war da eine Idee des Franzosen Serge Viallelle, der sich seit 1989 der Welt der Cetaceen verschrieben hat. Er gründete 1991 die erste nachhaltige Station zur Beobachtung und Erforschung dieser Tiere auf den Azoren: Espaço Talassa. Daran angeschlossen ein Restaurant und ein kleines Hotel, in dem wir untergebracht sind.

Serge, der heute als „Walpapst“ nicht nur auf den Azoren gilt, begrüßt seine Gäste in Badelatschen und kurzen Hosen, darüber eine Kapuzenjacke, wie sie auch seine Mitarbeiter tragen. Die kommen aus aller Herren Länder. Da ist der Sohn eines ehemaligen Walfangjägers von der heimischen Insel, eine Meeresbiologin vom Mutterland, einer aus den USA, und bei der Anmeldung treffen wir auf Anna, die uns freundlich darauf hinweist, dass wir ruhig Deutsch sprechen können. Sie hat gerade die Schule hinter sich gebracht und leistet hier die eine Hälfte ihres freiwilligen ökologischen Jahres ab. Sie alle sind Überzeugungstäter und haben sich ganz der einzigartigen Schönheit der Meerestierwelt sowie dem Erhalt ihres Lebensraumes verschrieben. Das ist es, was hier zählt und woran ein jeder nochmals in einer Einführung erinnert wird, bevor es für drei Stunden in Hartschalenbooten raus auf den Atlantik geht. Pro Boot eine Zehnergruppe plus Skipper und Biologen. Am Morgen hat der Ausguck an der Ponta da Queimada, von wo aus man bis zu 20 Meilen weit sehen kann, Pottwale gesichtet, die hier ansässig sind, im Gegensatz zu den größeren Blau- und Finnwalen, die vorrangig im Frühjahr die Azoren auf ihren Wanderbewegungen passieren. Nachdem wir bei unserer ersten Ausfahrt aufgrund des starken Wellengangs kaum etwas zu Gesicht bekamen, haben wir diesmal mehr Glück. Erst eine Pottwalfamilie, dann ein Schwarm von Delphinen, ein Hammerhai und schließlich noch zwei Meeresschildkröten. Kein schlechter Schnitt.

Eine Herde Delphine …. gesichtet beim Whale Watching.

An Land gibt es dann noch eine Nachlese über die Erkennungsmerkmale und Verhaltensweisen der gesehenen Tiere, bevor Arten und Anzahl in die fortlaufende Statistik übertragen werden. Mitte Oktober werden die Einträge immer rarer. Die Saison neigt sich ihrem Ende. Ich frage Anna, wie lange sie noch bleibt. Zehn Tage, sagt sie. Und sie sieht ein wenig traurig aus. „Aber ich komme wieder, nächstes Jahr“, fügt sie dann mit fester Stimme hinzu.

Wir haben auch nur noch ein paar Tage, aber die Tage, gerade hier auf Pico, zählen doppelt. Der morgendliche Gang ans Wasser, der Blick übers Meer, hoch zum Gipfel, das Spiel der Wolken am Himmel, eines von Giselas Highlights aufsuchen, der Blick übers Wasser, der Gang ans Meer, die Dramaturgie der Wolken… Wenn mich jetzt jemand fragen würde, was wir noch vorhaben, so würde ich „nichts“ sagen in dem klaren Bewusstsein, dass es eine Lüge wäre.


Nützliche Infos:

Flugverbindungen

Frankfurt — Sao Miguel (direkt): z. B. SATA//TAP/Ryanair

Lissabon — Azoren: z. B. SATA/TAP

Whale watching und mehr
Z. B. von Faial aus: www.naturalist.pt

Literatur
z. B. Michael Bussmann: Azoren. Erlangen: Michael Müller Verlag, 2016

Anmerkung: Die Reise wurde vom Verfasser selbst finanziert.



Ein Gastbeitrag für tralleinjos.de
(c) Alle Rechte vorbehalten. Bernd Neubauer 

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Bernd Neubauer ist freiberuflicher Lektor und Autor, er lebt in Göttingen.

Die Kontaktdaten des Autors lauten:

Bernd Neubauer · Pastor-Sander-Bogen 43 · 37083 Göttingen

Email: bueroneubauer[at]gmx.de

Homepage: https://bneubauer.de/


Von Bernd Neubauer ist auf travellinjos.de auch ein Bericht zu einer Reise in den Canyon de Chelly (Arizona, USA) erschienen: https://travellinjos.de/auf-dem-weg-zum-sprechenden-land/

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